Die Legende vom „Roten Terror“ am Essener Wasserturm

Wasserturm Steeler Berg

Der Essener Wasserturm in den 20er Jahren; Quelle: Wikipedia

Die vielleicht hartnäckigste Legende vom „Roten Terror“ während der Märzrevolution 1920 rankt sich um den Kampf um den Essener Wasserturm am 19. März 1920. Erhard Lucas schreibt dazu:

Die Arbeiter hatten die Stadt in der Hand – bis auf einen Punkt, den Wasserturm im Ostpark am Steeler Berg (Südosten der Altstadt). Die Besatzung – 24 Mann Einwohnerwehr und 22 Mann Sipo [Sicherheitspolizei] – ergab sich nicht. Das, was sich nun hier in den folgenden Stunden abspielte, wurde für die bürgerliche und später die nationalsozialistische Geschichtsschreibung das Paradebeispiel für die sadistischen Greueltaten der „Roten Armee“. Immer wieder wurde es erzählt: Nach stundenlanger Belagerung zeigt die tapfere kleine Besatzung schließlich die weiße Fahne und tritt dann mit erhobenen Händen aus dem Gebäude – da stürmt eine wilde schreiende Horde die Freitreppe hinauf und schießt, schlägt und sticht in entfesselter Mordlust auf die Wehrlosen ein. Wer dem Gemetzel zu entfliehen versucht, wird ebenfalls niedergeschossen. Nur 6 Mann kommen mit dem Leben davon. Ein unwiderleglicher Beweis – so hat es sich seitdem allgemein im Bewußtsein festgesetzt –, daß der ganze Ruhraufstand nichts anderes war als der Aufstand der „rohen und vertierten Masse“.

[…] Die ganze Greuelgeschichte um den Wasserturm aber wird durch einen Mammutprozeß widerlegt, der knapp ein Jahr später in Essen gegen 15 Arbeiter geführt wird. […] Der Inhalt der Anklage, die Vernehmung der Angeklagten und die Aussagen einer Unmenge von Zeugen ergeben, ergänzt durch die Darstellungen des Polizeipräsidenten und zweier Wasserturm-Verteidiger, in folgenden Punkten ein zweifelsfreies Bild:

Das erhöht liegende, mächtige Gebäude – im Parterre ein Restaurant, darüber die Kessel, überragt von Ecktürmen – wurde von den Arbeitern in einiger Entfernung umzingelt. Die Arbeiter richteten sich auf eine Belagerung ein; ein direkter Sturmangriff über das freie Vorgelände wäre zu verlustreich gewesen. Umsichtig sorgten die Arbeiter für den Schutz der Passanten vor dem Feuer der Verteidiger. Die Verteidiger hatten Parterre und Obergeschoß des Gebäudes besetzt.

[…] Gegen 17 Uhr steckte die Parterrebesatzung aus einem Fenster eine weiße Fahne. Die Besatzung im Obergeschoß war teils dagegen, teils war sie überhaupt nicht informiert. Die belagernden Arbeiter winkten mit weißen Tüchern. Dann kamen sie langsam, Gewehr bei Fuß, heran, vorweg eine Rote-Kreuz-Fahne. Die ersten Reihen der Arbeiter stiegen die Freitreppe hinauf, die ersten gingen schon durch die offene Tür – da flogen aus dem Obergeschoß Handgranaten in die Reihen der Arbeiter, knatterte ein Maschinengewehr. Eine Handgranate traf, schlecht geworfen, das Gesims und explodierte im Inneren (daher später die Meinung, die Arbeiter hätten in den Turm geschossen). Die Arbeiter wichen zurück, warfen sich zu Boden, riefen: „Nicht mehr schießen! Nicht mehr schießen! Verräter!“ Verwundete stöhnten. Die Parterrebesatzung schlug die Tür wieder zu. Dann sprangen die Arbeiter auf; mit wütenden Rufen: „Erst ergeben sie sich und dann schießen sie noch!“ stürmten sie auf das Gebäude, einmal, zweimal, beim drittenmal kamen sie hinein. Einige Besatzungsmitglieder versuchten zu fliehen, ein Grüner tötete dabei einen jungen Arbeiter, der ihn festnehmen wollte.

Wäre jetzt die gesamte Besatzung erschossen worden, so wäre das verständlich gewesen. Doch wie lautete die Anklage im späteren Wasserturm-Prozeß? Neun Mann der Besatzung getötet, zwei weitere später an ihren Verwundungen gestorben (die Stärke der Gesamtbesatzung war 46 Mann). Zeugen berichteten, daß die Gefangenen mit Gewehrkolben geschlagen wurden, bekundeten aber auch, daß einzelne Arbeiter sich nach allen Kräften bemüht hätten, die Gefangenen zu schützen.

Der Kampf am Essener Wasserturm – 50 Jahre lang ein Schulbeispiel für den „roten Terror“! Die Frage, wie es möglich ist, daß die Wirklichkeit so auf den Kopf gestellt wird, ist die Frage nach Inhalt und Funktion der bürgerlichen Geschichtsschreibung.1

Im vergangenen Jahr konnte der Künstler Christoph Schäfer mit der Installation „Auslaufendes Rot – Ein Anti-Monument für die Rote Ruhr Armee“ vor Ort auf diese Legende aufmerksam machen. Zudem entstanden auch seine Notizen zur Roten Ruhr Armee, die in einem zweigeteilten Video die Vorgeschichte erzählen und eine Ausblick in die Gegenwart werfen. Die grafisch-filmische Umsetzung finde ich gelungen, während die dort verwendete Musik des Schwabinggrad Ballett zusammenhangslos und unbedeutend anmutet, die Klangebene des Videos leider weitestgehend verschenkt ist:
 
[youtube http://www.youtube.com/watch?v=GQ_GAuu56Oo&hl=de_DE&feature=player_embedded&version=3]
 
[youtube http://www.youtube.com/watch?v=cGQUfCJnswI&hl=de_DE&feature=player_embedded&version=3]

  1. Erhard Lucas, Märzrevolution 1920, Band 1, Frankfurt am Main 1974, S. 290-293
    Weitere Einzelheiten und Quellennachweise ebenda. []

One Response to “Die Legende vom „Roten Terror“ am Essener Wasserturm”

  1. Arndt Beck,

    Übrigens: im dritten Teil seiner „Märzrevolution 1920“ schreibt Lucas auch über den Ausgang der Gerichtsverhandlung (und wer die politische Justiz der Weimarer Republik auch nur ein wenig kennt, wird einschätzen können, wie ungewöhnlich das Urteil ist):

    „Gleich nach dem Einmarsch der Reichswehr war in Essen und Umgebung nach den ‚Wasserturmmördern‘ gefahndet, waren Verhaftete mit größter Brutalität zu Geständnissen gepreßt worden. In die Maschen der Justiz gerieten zunächst 48 Personen. Von diesen fielen sieben im September [1920] unter die Kapp-Amnestie; weitere wurden danach freigelassen; übrig blieben schließlich 15 Arbeiter, die sich wegen Mord bzw. Aufreizung zum Mord verantworten mußten. Der Prozeß, der mehrere Demonstrationen provozierte, dauerte einen vollen Monat lang, und schon zu Beginn waren rund 200 Zeugen geladen. Man übertreibt nicht, wenn man sagt, daß hier die Justiz exemplarisch den verbrecherischen Charakter des ganzen Aufstands nachzuweisen suchte. Aber auch die Angeklagten waren verhältnismäßig gut gerüstet: drei sozialistische Rechtsanwälte aus der Region hatten die Verteidigung übernommen.

    Der Prozeß wurde erst am 11. Februar 1921 eröffnet, nach neun- bis zehnmonatiger Untersuchungshaft der Angeklagten. Das war u.a. darauf zurückzuführen, daß der Untersuchungsrichter, Landrat Hesselt, erst zuletzt die von den Angeklagten immer wieder geforderte Gegenüberstellung mit den Belastungszeugen vorgenommen hatte. Auch sonst war sein Vorgehen denkbar scharf gewesen. Bei mehreren Angeklagten hatte er längere Zeit jeden Besuch selbst der nächsten Angehörigen untersagt. Geradezu skandalös war, daß er der Verteidigung bis zum Abschluß der Beweiserhebung (zehn Tage vor Prozeßbeginn) die Akteneinsicht verweigert hatte mit der Begründung, die Angeklagten hätten mehrfach den Akteninhalt besser gekannt als er selbst, und diese Kenntnis könne nur durch die Verteidiger vermittelt worden sein; auch müsse generell bei ‚Spartakistenprozessen‘ besonders vorsichtig verfahren werden. Eine Beschwerde auf Herausgabe der Akten wurde von der Strafkammer zurückgewiesen, und ebenso war nach Prozeßbeginn ein Antrag auf Vertagung (unter Hinweis auf mangelhafte Einarbeitung in die Akten) erfolglos. Die Anklage wurde pikanterweise von Staatsanwalt Weidenhaupt vertreten, der sich am Tage des Kappschen Staatsstreichs öffentlich für die Putschisten erklärt hatte, sowie durch Staatsanwalt Richter, einen ‚verdienten‘ ehemaligen Kriegsgerichtrat. Der Gerichtsvorsitzende Bröker stellte sich durch seine Verhandlungsführung praktisch auf die Seite der Staatsanwaltschaft. Drei Geschworene schließlich waren Mitglieder der Essener Einwohnerwehr gewesen, also Kameraden der Opfer. Ein Antrag der Verteidigung auf Feststellung der Befangenheit von Richtern und Geschworenen wurde gleichwohl abgelehnt.

    Das Bestreben der Verteidigung, die politischen Zusammenhänge aufzurollen – die Stellung von Einwohnerwehr und Sipo zum Kapp-Putsch, die Einsatzbefehle, die Haltung von General Watter usw. –, wurde vom Gericht weitgehend unterbunden. Auf der anderen Seite kam aber auch die Anklagevertretung nicht zu ihrem Ziel. Es war für sie bereits schwierig, bei einem derart turbulenten Vorgang, wie er sich beim Wasserturm abgespielt hatte, die Angeklagten durch Zeugen als direkt bei der Tötung von Turmbesatzern beteiligt zu identifizieren. Sodann wurde sie auch noch von den meisten Belastungszeugen aus der Voruntersuchung im Stich gelassen: immer wieder kamen Aussagen, man könne die Angeklagten nicht wiedererkennen, müsse frühere Aussagen zurücknehmen, ‚die Antworten wurden mir bei der Untersuchung in den Mund gelegt‘; vieles erwies sich als Ergebnis von Gerüchten, Erpressungen, teils sogar von Mißhandlungen; bei zwei Zeugen wurde die Zurechnungsfähigkeit bezweifelt; ein weiterer, ein Ingenieur, erwies sich als Spitzel auf eigene Faust, der mehrere Arbeiter freigehalten hatte, um schließlich belastende Aussagen zu erhalten usw. Besonders der Angeklagte Schlüter, ein Dreher aus Hattingen, verstand es vorzüglich, Belastungszeugen zu verunsichern und in Widersprüche zu verwickeln. Auch ein Radikalmittel, zu dem das Gericht schließlich griff, besserte die Situation nicht: nach dem Essener Adreßbuch wurden sämtliche Anwohner des Terrains als Zeuge vorgeladen (mit chaotischen Folgen für die Prozeßführung und für die Vorgeladenen). Hervorzuheben ist schließlich das Verhalten des Hauptbelastungszeugen, des Reichswehrspitzels Hans Tombrock […]. Tombrock war nach dem Aufstand zunächst verhaftet, jedoch bald wieder freigelassen worden. In der Voruntersuchung hatte er mehrere Angeklagte schwer belastet; umgekehrt häuften sich vor Gericht die ihn belastenden Aussagen. Bei Prozeßbeginn war er verschwunden; die Verteidigung setzte schließlich einen richterlichen Haftbefehl gegen ihn durch. Am sechsten Verhandlungstag erschien er vor Gericht. Hier erklärte er, er wolle die Verurteilung von Unschuldigen verhindern; in der Sache widerrief er alle entscheidenden Aussagen, die er gemacht hatte. Dieser Bruch mit seiner Spitzeltätigkeit – die er offen zugab – führte zu einer schweren persönlichen Krise: eine Woche später machte er kurz nacheinander zwei Selbstmordversuche. (Für die Staatsanwaltschaft unbrauchbar geworden, wurde er später in einem weiteren Prozeß wegen Beteiligung an den Wasserturm-Kämpfen zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.)

    Das eigentliche Fiasko der Staatsanwaltschaft begann, als sich durch zahlreiche Zeugenaussagen immer deutlicher herausschälte, daß die Dinge im entscheidenden Punkt anders lagen als in der Anklage behauptet: nicht wehrlose Gefangene, die sich bereits ergeben hatten, waren niedergemetzelt worden, sondern die Turmbesatzung hatte sich ihre Opfer selbst zuzuschreiben, nachdem sie zuerst die weiße Fahne gehißt, dann aber auf die herankommenden Arbeiter geschossen hatte. Staatsanwalt Weidenhaupt wagte es allerdings, dies in seinem Plädoyer als unerheblich hinzustellen; entscheidend sei allein, daß bei den bewaffneten Arbeitern der Plan bestanden habe, die Turmbesatzung ‚kaltzumachen‘ (eine ebenso unbewiesene Behauptung). Er beantragte für alle Angeklagten bis auf eine Ausnahme die Todesstrafe. Jedoch hier konnten Richter und Geschworene nicht mehr folgen: am 11. März wurden alle Angeklagten freigesprochen.“

    Erhard Lucas, Märzrevolution 1920, Band 3, Verhandlungsversuche und deren Scheitern; Gegenstrategien von Regierung und Militär; die Niederlage der Aufstandsbewegung; der weiße Terror, Frankfurt am Main 1978, S. 410ff.

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