Umsonstkultur offline

Wer in Berlin wohnt oder zu Besuch ist, kann derzeit fünf nur Fußminuten auseinanderliegende, höchst unterschiedliche aber sehenswerte Fotoausstellungen besuchen – alle umsonst.

Neben der Dauerausstellung ist noch bis zum 8. Januar 2012 in der Topographie des Terrors die Sonderausstellung „Vor aller Augen“ – Die Deportation der Juden und die Versteigerung ihres Eigentums: Fotografien aus Lörrach, 1940 zu sehen:

Die in der Ausstellung gezeigten Bildserien mit insgesamt 42 Fotografien der Deportation von Juden in Lörrach am 22. Oktober 1940 sowie der Versteigerung von Hausrat aus ihren Wohnungen, wenige Wochen nach diesem öffentlichen Verbrechen, stellen eine erschütternde visuelle Dokumentation dar. Für beide Serien sind die originalen Negative des Fotografen, eines Kriminalpolizeibeamten, erhalten. Wegen der nur spärlichen schriftlichen Überlieferung zum Geschehen kommt den visuellen Quellen besondere Bedeutung zu, obwohl sie aus der Perspektive der Täter und in deren Auftrag entstanden. Sie belegen organisatorische Details dieses Verbrechens wie die Sammlung und den Transport der Opfer. Und sie vermögen in großer Unmittelbarkeit atmosphärische Aspekte des Geschehens, die Facetten der Sozialgeschichte dieses einen unter so vielen NS-Verbrechen beleuchten, zu belegen. Haben sie doch im Bild aufbewahrt, wer auf Seiten der Täter beteiligt war, aber auch, dass dieses Verbrechen teilweise öffentlich, vor den Augen vieler Zuschauer stattfand. Die Fotos der Versteigerungen belegen zudem den starken Publikumsandrang zu den Auktionen des Eigentums der Deportierten und damit die ungeheuerliche Indifferenz erschreckend vieler Deutscher gegenüber dem Schicksal der Juden.

Während hier der dokumentarische Wert der Fotografie im Vordergrund steht, handelt es sich bei der im Nachbargebäude des Martin-Gropius-Baus gezeigten Schau (nur noch bis zum 17. Dezember) Stiller Widerstand. Russischer Piktorialismus 1900–1930 um handfeste Fotokunst:

Die russische Fotoavantgarde der 1920er und 30er Jahre – Alexander Rodtschenko, El Lissitzky, Boris Ignatowitsch u.a., die zu ihrer Zeit unter der Verfolgung und den Repressalien eines totalitären Regimes zu leiden hatten – sind heute Klassiker der russischen und der internationalen Kunst. Mehr noch, sie sind zu einer Art Aushängeschild des sowjetischen Russland geworden. Sie stehen für die gewaltige Energie, für den Neuanfang der ersten Jahre nach der Oktoberrevolution von 1917. Wenig bekannt ist jedoch, dass es zur selben Zeit in Russland eine weitere Strömung in der Fotografie gab – den Piktorialismus. Die Vertreter dieser Kunstrichtung strebten danach, die Fotografie den Werken der Malerei anzunähern, indem sie vor allem weichzeichnende Objektive und eine spezielle, oftmals sehr komplizierte Vergrößerungstechnik einsetzten. Die piktoriale Fotografie verstand sich als Gegenposition zur dokumentarischen Fotografie und suchte, wie die Malerei, vor allem die emotionale Färbung, den Ausdruck der individuellen Gedanken und Bedeutungen, die der Künstler in sein Werk hineinlegt.

Die Meister der russischen piktorialen Fotografie – Alexander Grinberg, Juri Jerjomin, Nikolaj Andrejew, Nikolaj Swischtschow-Paola u.a. – fügten sich perfekt in den Kontext der internationalen Kunst ein und erhielten Gold- und Silbermedaillen auf den größten internationalen Fotoausstellungen und in den Foto-Salons in Europa, den USA und Japan.

Der Piktorialismus, geboren als Kind der internationalen Fotografie zum Ende des 19. Jahrhunderts, hatte Mitte der 1920er Jahre sein ästhetisches Potenzial ausgeschöpft. Im sowjetischen Russland wurde er zu dieser Zeit ein zweites Mal geboren.

Nun führt uns der Weg einige Fußminuten die Stresemannstraße stadtauswärts, hin zur Parteizentrale der SPD. Hier ist der Eintritt nicht ganz frei. Denn die unsinnige Planung des Gebäudes hat keinen eigenen Eingang für die Galerie des Willy-Brandt-Hauses vorgesehen und seit dem 11. September 2001 muß man vor dem Galeriebesuch den Personalausweis vorzeigen. Wenn man dazu gewillt ist, kann man u.a. Orte, Landschaften, Seelenzustände – Fotografien von Mario Giacomelli (1925-2000) noch bis zum 22. Januar 2012 dort sehen:

Seine Arbeiten fasste Giacomelli bevorzugt in Serien zusammen. Die zwischen 1961 und 1963 entstandenen Fotografien zum Thema junge Priester gingen in die Fotogeschichte ein. Neben diesen werden in der Ausstellung Aufnahmen aus Scanno, dem Dorf in den Abruzzen, das schon Henri Cartier-Bresson faszinierte, zu sehen sein; mit „La buona terra“ ein Bildessay über das Leben der Landarbeiter, außerdem perspektivisch ungewöhnliche Landschaftsaufnahmen und die berührende Serie aus dem Hospiz in Senigallia.

Die Auswahl der Fotografien beinhaltet alle Themen, die Giacomellis Arbeit geprägt haben: Italien, die Landschaft und das Land, menschliches Schicksal, Alter und Vergänglichkeit, aber auch Hoffnung und Liebe.

Giacomellis Fotografien bewegen sich zwischen realistischen dokumentarischen Aufnahmen und surrealistisch anmutenden Bildern. Sie lassen eine sehr eigenständige, betont grafische Bildsprache erkennen, mit der er für die Fotografie der Jahrhundertmitte neue Impulse setzte.

Eine Etage über Giacomellis Bildern findet man noch bis zum 15. Januar die Ausstellung „Jürgen Schadeberg – Fotografien aus sieben Jahrzehnten„:

Berühmt wurde Schadeberg in den frühen fünfziger Jahren als Fotograf und Chef der Fotoabteilung des Magazins „Drum“, der ersten Illustrierten für Schwarze von Schwarzen in Südafrika. Als erster weißer Fotograf dokumentierte er die Lebens- und Arbeitsbedingungen der schwarzen Bevölkerung und wurde dabei zu einem der wichtigsten Chronisten der Unterdrückung und des Befreiungskampfes.

Zahlreiche seiner Fotografien – unter anderem die von der Zwangsräumung und dem Abriss von Sophiatown und der Beerdigung der Opfer des Sharpeville-Massakers – sind in unser kollektives Bildgedächtnis eingegangen. Er porträtierte den jungen Rechtsanwalt und ANC-Kämpfer Nelson Mandela ebenso wie die damals nur unter Schwarzen bekannte Sängerin Miriam Makeba. Er tauchte in das pulsierende Nachtleben der schwarzen Townships ein und dokumentierte deren lebhafte Musik-, Tanz- und Barszene.

Viel später (1994) kehrte er mit Nelson Mandela zurück zu dessen Gefängniszelle auf Robben Island, wobei ein eigentümlich hitlereskes Portrait entstand (zum Vergleich siehe hier).

Zu guter Letzt kann man im Atrium noch bis zum 8. Januar die Ausstellung „Ein Traum von Theater – Sibylle Bergemanns Jahre mit dem Theater RambaZamba“ sehen:

Es war Zufall, dass Sibylle Bergemann auf dieses augenscheinlich „besondere“ Theater [das Theater RambaZamba] aufmerksam wurde. Aus der besonderen Leidenschaft Bergemanns entstand meist anlässlich der Premieren des Theaters eine einzigartige Langzeitstudie, die, von der Fotografin nicht als geschlossene Serie konzipiert, nun erstmals zur Ausstellung kommt.

Also: Augen auf und hin!

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