Mit Land- oder Agrarwirtschaft mögen die meisten den Beruf Landwirt und Landwirtin verbinden. Es gibt auch die studierte Variante, wie Diplom-Landwirt oder Diplom-Agraringenieur. Für beide Varianten muss der Mensch lernen, muss sich bilden und ausbilden lassen. Funktionär hingegen scheint man sein zu können, ohne etwas sinnvolles können zu müssen. Erklärtes Arbeitsziel ist vermutlich Vielfachfunktionär und nicht Nachhaltigkeit zum Wohle Aller. An dieser Stelle geht es aber nicht um Berufsorientierung, -beratung oder Karriereplanung, sondern um Bonzen in der Landwirtschaft. Die interessante Studie Die Vernetzung der Agrarindustrie und Agrarpolitik in Deutschland: Netzwerkbetrachtung der deutschen Agrar- und Ernährungswirtschaft und ihrer Interessenvertretung in Spitzenverbänden und in der Politik von Veikko Heintz zeigt die Verflechtungen zwischen Politik und Wirtschaft, Bauern und Bonzen im Agrarsektor auf.
Aufgrund der Häufung von Tätigkeiten in Entscheidungs- oder Aufsichtsgremien in Spitzenunternehmen und Interessenverbänden können einzelne Personen als Netzwerkknotenpunkte zwischen Agrarindustrie und Politik betrachtet werden. Diese können aufgrund der Vielzahl ihrer Tätigkeiten in Verbänden und Unternehmen als Vielfachfunktionäre bezeichnet werden. Durch ihre zentrale Stellung in der Politik, Verbänden und Unternehmen nehmen sie Schlüsselpositionen in der Interessenvertretung der deutschen Agrar- und Ernährungsindustrie ein. (Seite 25)
Die im August 2013 veröffentlichte Studie zeigt im Detail das Zusammenspiel von Nahrungsmittelindustrie, Parteipolitik und Agrarverbänden anhand personeller Überschneidungen, also Vielfachfunktionären.
Nachzulesen ist u.a. eine Übersicht über die größten Unternehmen im Agrar- und Ernährungssektor inklusive Umsatzübersicht oder die Höhe der Subventionsleistungen in den einzelnen Bereichen. Die Übersicht der personellen Überschneidungen (Seite 9) von Abgeordneten des Bundestags, Europaparlaments und der Landesebenen und ihren Tätigkeiten in verschiedenen Agrarverbänden sowie Interessenvertretungen der Unternehmen im Agrarsektor verdeutlicht den Zusammenhang von politischen Entscheidungen und Interessen der kapitalistischen Agrarwirtschaftsbetriebe. Eine Vorstellung einzelner Abgeordneter zeigt die überdurchschnittlich enge Verknüpfung zwischen CDU/CSU, Bauernverband und dazugehörigen Organisationen (siehe auch Berliner Zeitung).
Im Bereich des Versicherungswesens wird deutlich, was insgesamt das Problem ist:
Geschichtsbedingt sind viele Unternehmen der verarbeitenden Industrie (wie z.B. Molkereien und Zuckerindustrie) vor allem aber des landwirtschaftlichen Agrarhandels und des landwirtschaftlichen Versicherungswesens im Ursprung Genossenschaften. Aus diesem Grund nimmt das Genossenschaftswesen in der Landwirtschaft so eine herausragende Stellung ein. Entlang der Wertschöpfungskette „Lebensmittel“ erzielen die 2.500 DRV-Mitgliedsunternehmen im Agrarhandel und in der Verarbeitung tierischer und pflanzlicher Erzeugnisse einen Jahresumsatz von rd. 50 Mrd. Euro. (Seite 7)
Hier wird also Geld verdient und Vielfachfunktionäre halten ihre Einkünfte intransparent (vgl. Seite 9). Die „Wertschöpfungskette Lebensmittel“ sucht nach Profiten und nicht nach einer überlegten sinnvollen nachhaltigen landwirtschaftlichen Produktion.
Die Anregungen und Handlungsoptionen am Ende der Studie hinsichtlich rechtlicher Regelungen, Transparenzherstellung, u.a. in der Vergabe von Agrarsubventionen und weitergehender wissenschaftlicher Untersuchungen möchte ich ergänzen. Es besteht die dringende Notwendigkeit der Stärkung und Förderung kleinerbäuerlicher Landwirtschaft für eine Souveränität über die Nahrungsmittelproduktion, für eine Unabhängigkeit und Selbstbestimmung durch eine gesicherte Ernährung und Kontrolle über die Produktionsmittel. Eine praktische und organisatorische Perspektive in dieser Richtung bietet das Netzwerk Solidarische Landwirtschaft.