Krisenproteste in Spanien [Rezension]

huke_coverVon Elisabeth Voss

Nikolai Huke untersucht Krisenproteste und soziale Bewegungen in Spanien seit den Platzbesetzungen der Indignados (Empörten), die erstmals am 15. Mai 2011 in vielen Städten stattfanden. Die daraus entstandene Bewegung 15-M formulierte ein lautstarkes „Nein“ zum Bestehenden, forderte echte Demokratie und ein Leben in Würde. Ihre soziale Basis waren überwiegend junge, prekarisierte Menschen aus der Mittelschicht, deren Lebensträume angesichts der Krise zerplatzt sind. Detailreich werden die Bemühungen um andere politische Formen geschildert, der Versuch, durch horizontale Organisierung in Versammlungen (Asambleas) und mittels Digitaltechnik alle mitzunehmen. Auch die daraus mitunter resultierende Selbstüberforderung, Ausgrenzungen und Richtungsstreit werden nicht verschwiegen.

Als strategisches Projekt gründeten AktivistInnen die Plattform der Hypothekenbetroffenen (PAH), also derjenigen, die ihre Wohnung verlieren, weil sie die Raten an die Bank nicht mehr bezahlen können. Neben der Abwehr von Zwangsräumungen kam es auch zu Besetzungen und Wiederaneignung von Wohnungen, Volksentscheiden und Gerichtsprozessen. Die Kampagne Obra Social (Wohltätigkeitsprogramm) der PAH in Barcelona erkämpfte zum Beispiel Wohnungen für obdachlose Familien. Diese Orientierung auf praktische Fragen und Solidarität brachte der Bewegung großen Zulauf.

Der Protest gegen die Zerstörung der Lebensgrundlagen formierte sich auch in den Mareas, den Kämpfen gegen Privatisierungen und drastische Verschlechterungen der Versorgung im Gesundheitsbereich (Marea Blanca/Weiße Flut) und in der Bildung (Marea Verde/Grüne Flut). Die Forderungen nach einem öffentlichen Bildungssystem für alle und Gesundheit als Gemeingut vereinigte Beschäftigte in diesen Arbeitsbereichen mit den NutzerInnen. Die Erfahrungen mit der Zusammenarbeit mit Gewerkschaften bei Aktionen und Streiks waren sehr unterschiedlich.

Während die neuen Protestbewegungen von der Kritik an Parteien und Institutionen gekennzeichnet sind, ist der „Überfall auf die Institutionen“ der Versuch, Inhalte aus den Bewegungen in die Parlamente zu tragen und institutionell zu verankern. In Katalonien trat 2012 erstmals die lokalpolitisch aktive CUP (Candidatures d’Unitad Popular) mit einer parlamentskritischen Perspektive zur Wahl an. 2014 entstand aus den sozialen Protesten, insbesondere aus universitären und trotzkistisch-antikapitalistischen Diskussionszusammenhängen Podemos, eine recht erfolgreiche neue Partei, die von Anfang an von machtstrategischen Überlegungen und der Orientierung auf die Führungsfigur Pablo Iglesias gekennzeichnet war.

An die Stelle von offenen Versammlungen traten nun formalisierte Strukturen. Wie kaum anders zu erwarten, führte das Streben nach Regierungsbeteiligung zur De-Radikalisierung und zur populistischen Vereinfachung politischer Inhalte. In der Zusammenarbeit und gemeinsamen Wahlbeteiligung mit basisbewegten Plattformen wie Barcelona En Comu und Ahora Madrid zeigen sich die Widersprüche zwischen Partei und Bewegung, was an unterschiedlichen Vorgehensweisen und Methoden deutlich wird.

Für seine Darstellung der Entwicklung der spanischen Protestbewegungen und ihrer Widersprüchlichkeiten hat Nikolai Huke zwischen 2012 und 2015 eine Reihe von AktivistInnen interviewt, und zitiert darüber hinaus aus vielen Veröffentlichungen. Anhand der Schilderung konkreter Situationen und theoretischer Reflexionen werden Fragen nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden in diesen Bewegungen aufgeworfen, nach Geschlechter- und Klassenverhältnissen, Rassismus und Nationalismus, sowie politischer Verortungen zwischen linksradikal und „weder rechts noch links“. Der Autor zeichnet ein facettenreiches Bild des „erfolgreichen Scheiterns“, das spannende Einblicke in einen weiterhin fortlaufenden Prozess gibt. Nach seiner Einschätzung sind die spanischen Erfahrungen „ein produktiver Ausgangspunkt für strategische Debatten sozialer Bewegungen auch jenseits von Spanien, die im Kontext von Krisen der repräsentativen Demokratie, alltäglicher Prekarität oder einem Rückbau des Sozialstaats agieren.“

 

Nikolai Huke: Krisenproteste in Spanien – Zwischen Selbstorganisation und Überfall auf die Institutionen, Verlag edition assemblage, Münster 2016, 175 Seiten, 14,80 Euro, ISBN 978-3-96042-006-4

Diese Rezension von Elisabeth Voss (Dipl. Betriebswirtin (FH) / freiberufliche Publizistin) erscheint gekürzt in CONTRASTE, Monatszeitung für Selbstorganisation, Nr. 387 (Dezember 2016). CONTRASTE berichtet regelmäßig aus dem Land der gelebten Utopien: über Arbeiten ohne ChefIn für ein selbstbestimmtes Leben, alternatives Wirtschaften gegen Ausbeutung von Menschen und Natur, über Neugründungen von Projekten, Kultur von „unten“ und viele andere selbstorganisierte und selbstverwaltete Zusammenhänge. Wir danken für die Erlaubnis zur Publikation.

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